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Briefe aus Jerusalem: Rezension

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Version vom 20. Februar 2019, 13:03 Uhr von Horaz Klotz (Diskussion | Beiträge) (Horaz Klotz (4 / 5))


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Realbaby (3 / 5)

Es ist wirklich nicht einfach, die ganzen Boones unter einen Hut zu bringen. Insgesamt werden 11 Mitglieder der Familie namentlich genannt. Und dann ist da noch dieser James Boon, der ohne das "e" am Schluss auskommt. Zu allem Überfluss hat Everett Granson, der Freund von Charles Boone, auch noch den Spitznamen "Bones" (engl. Knochen, Knochengerüst) bekommen.

Sofort erinnert wurde ich an Bram Stokers Dracula. Auch dort ist, zumindest in der Filmversion, immer wieder das Geschriebene von Jonathan Harker Bestandteil der Handlung.

Der deutschen Übersetzerin Barbara Heidkamp sind mindestens zwei Fehler unterlaufen (siehe hier), was es dem Leser nicht unbedingt leichter macht, die Ereignisse zeitlich, sowohl auch die Familienverhältnisse zu verstehen. Doch auch Stephen King selbst blieb bei diesem Werk nicht fehlerlos. So lässt er Stephen Boone fälschlicherweise an die bereits verstorbene Ehefrau von Charles schreiben. Bei Randolph Boone konnte sich King anfangs scheinbar nicht entscheiden, ob er diesen im Jahre 1816 einfach verschwinden lässt, oder ob er sich im Keller des Hauses erhängt. Zum Glück hat King letztere Variante gewählt; denn so ist möglich, dass Randolph auf Chapelwaite als wandelnde Leiche umhergeht.

Im Großen und Ganzen eine recht nette Story, der es eigentlich an nichts fehlt, außer: Eine kleine Erklärung, was es denn mit dem "Wurm Der Verderben Bringt" auf sich hat. Ganz schlau bin ich daraus leider nicht geworden.

Bevor ich an dieser Geschichte gearbeitet habe, hätte ich ihr garantiert 4 Punkte gegeben. Doch beim Auseinandernehmen dieser, bleiben Fragen offen und es scheint eine Geschichte zu sein, die doch besser mit Hilfe eines Reißbrettes entworfen worden wäre – auch wenn King meint, dass diese Art von Werken (u.a. Schlaflos und Das Bild) nicht zu seinen Besten gehören. Dennoch bleibt die Spannung bis zum Schluss erhalten; und der Leser darf sich sogar ein Ende aussuchen. War es letztendlich nur ein einziger Mann, dessen Verstand sich verabschiedete und wild fantasierte, ja sogar zum Mörder wurde – oder sind die Aussagen wahr und sind 1971 noch immer diese Wesen im Keller, die wachen und behüten ...

Croaton (4 / 5)

Schon interessant - denn im Gegensatz zu Realbaby hätte ich vor der Arbeit an verschiedenen Artikeln nur 2 Punkte gegeben - jetzt, wo ich mich damit intensiver auseinandergesetzt habe, verleihe ich 4!

Ich mag irgendwie Geschichten, die - wie etwa The Plant oder Dracula - in Briefform verfasst sind. Dass man Jerusalem's Lot Jahre vor Brennen muss Salem besuchen darf, hat auch seinen Reiz; die Szenen in diesem Geisterdorf sind sehr eindringlich geschrieben. Auch die Schlussszene mit dem Monsterwurm hat was, so absurd sie auch ist. Die Frage ist nur - wie kommt man von diesem Wesen zu den Vampiren, die später die Stadt beherrschen? Soll man da einen Zusammenhang erkennen können? Und mich nervt einfach dieses H.P. Lovecraft-Gebrabbel von wegen Yoghurtblubber oder so ähnlich. Das entzieht für mich allem immer die Seriosität und kommt superdämlich rüber. Aber King mag's, das beweist er ja (allzu) oft!

Winterspecht (3 / 5)

Natürlich ist der Auftakt zu der herausragenden Sammlung Nachtschicht eine Verneigung vor H.P. Lovecraft. King hat später oft und gerne "Pastiches" geschrieben,d.h. in Anlehnung an einen bekannten Stil. Ich denke da an Arthur Conan Doyle oder Raymond Chandler. Auch ist die Briefform ein beliebtes stilistisches Manöver des 19ten Jahrhunderts gewesen, einem Sachverhalt den Anstrich von Realität einzuhauchen. Heute wissen wir, dass es auch anders geht. Diese Erzählung als Eröffnung zu wählen ist mutig. Ich entsinne mich, dass ich, als ich dieses Buch als junger Mann das erste Mal las, dieser Geschichte nicht so gerne folgen mochte. Jetzt, da ich sie wieder gelesen habe, durchschaue ich sie zwar, aber sie fällt für mich dennoch gegenüber den Hammerschlägen die nach ihr folgen, ab. Nicht weil sie schlecht wäre, ganz und gar nicht, sie hat ihre unheimlichen Momente. Aber man merkt ihr allzudeutlich an, dass sie eben "nur" ein Pastiche ist.

Mr. Dodd (5 / 5)

Etwas schlucken musste ich schon als ich die Darreichungsform sah, die King dieses Mal verwendete: Der Briefroman. Den letzten Briefroman den ich las, war Werther und das waren keine gute Erinnerungen an den Deutschunterricht.

Diese Geschichte jedoch gefiel bald sehr gut. Eine gruslige Atmosspähre kam auf, sowohl durch das verfluchte Haus, als auch durch das verlassene Dorf Jerusalem's Lot. Wunderbarerweise übernahm King den Namen dann für seinen Roman Salem's Lot. Auch wenn dieses Dorf unmöglich das gleiche sein kann, da die Entstehungsgeschichte unterschiedlich ist.

Immer unheimlicher wurde es, als die Geräusche in den Wänden lauter wurden, die Dorfbewohner sich von Charles Boone und seinem treuen Diener Calvin McCann abwandten und die beiden schließlich das verfluchte Buch Die Geheimnisse des Wurms zerstören wollten. Gerade das Ende erzeugte noch einmal Gänsehaut bei mir als sich Charles das offenbar bloß ausgedacht hat, aber die Geräusche immer noch da sind. Eine wirkliche Gänsehautgeschichte.

Woingenau 300 (5 / 5)

Nachtschicht war für mich immer die Sammlung, vor der ich mich am meisten gedrückt habe. Es heißt ja, sie sei die beste Kurzgeschichtensammlung Kings und das wollte ich mir zunächst einmal aufsparen. Nun, Meinungen gehen auseinander, nicht jeder hält Nachtschicht für die beste Sammlung, aber Briefe aus Jerusalem ist in jedem Fall ein durch und durch gelungener Auftakt. Ich lehne mich sogar sehr gerne aus dem Fenster und sage: diese Kurzgeschichte hat fast alles, was eine gute Kurzgeschichte braucht.

  • Eine interessante, abwechslungsreiche Gestaltung (die Briefform)
  • Puren, nackten Horror in Form jener "Wesen", die im Keller lungern
  • Ein großes Geheimnis, das einen zwingt, einfach weiterlesen zu müssen, so, dass es gar nicht mehr anders geht.
  • Eine geheimnisvolles Dorf, in dem seltsame Dinge vorgehen (gerade diese Vorstellung finde ich schon immer faszinierend. Das ist klassischer Horror in seiner puren Form, wie er selbst bei King nicht immer auftaucht).

Dazu kommt noch, dass diese Geschichte in einer Vergangenheit spielt, die jeher eine düstere Atmosphäre heraufbeschwört, so wie Bram Stokers Dracula, Mary Shelleys Frankenstein oder die Kurzgeschichten von Poe oder H.P. Lovecraft. Deswegen gibt es von mir für die bis jetzt beste Kurzgeschichte Kings fünf Punkte.

Vermis (5 / 5)

Jerusalems Lot (der Originaltitel gefällt mir einfach besser) zählt zu meinen Lieblings-Kurzgeschichten von King. Mir gefallen Storys wie diese, N. oder Revival, wo King sich an Lovecraft orientiert. Die Atmosphäre der Geschichte ist beklemmend, das verlassene Dorf und die verunstaltete Kirche sind äußerst gruselige Orte. Besonders gefällt mir natürlich die Darstellung des Wurms und das Buch De Vermis Mysteriis, von dem ich froh bin, dass King es später erneut in Revival auftauchen ließ.

Von einigen Fehler und Ungereimtheiten lasse ich mir die gute Story jedenfalls nicht ruinieren und gebe doch 5 Punkte.

Horaz Klotz (4 / 5)

King und Lovecraft - das ist immer eine Kapitel für sich. Erst neulich habe ich ein Interview mit King gehört, in dem er sich ein bisschen abfällig über den Horror-Altmeister geäußert hat. Er wäre als Kind großer Fan gewesen, aber in seiner Jugend dann herausgewachsen, als er "richtige" Literatur entdeckt hätte. Und überhaupt kann dieser Lovecraft keine echten Szenen schreiben und verlässt sich immer zu stark auf die immer gleichen Grusel-Tricks. Trotz diesem ziemlich vernichtenden Urteil scheint unser Autor nie so ganz von Lovecraft losgekommen zu sein und bedient sich immer wieder - mal mehr mal weniger offensichtlich - in dessen Fundus namenloser alter Schrecken. Das geht manchmal gut, besonders wenn er sich auf Andeutungen über das geheime Grauen hinter der Welt unserer zunehmend wahnsinnigen Erzähler beschränkt (N.). Und manchmal nicht, wenn er mitten im schönsten Spannungsbogen plötzlich in einen Kampf mit bizarren Tentakel-Fühler-Monstern stolpert (Revival). Sobald ich wusste wohin die Reise ging, war ich bei Briefe aus Jerusalem also ein bisschen vorsichtig, aber - Entwarnung - hier funktioniert die King-Lovecraft-Mischung mal wieder ziemlich gut.

Zu Anfang ist die Briefroman-Form erstmal etwas gewöhnungsbedürftig. Aber was für Dracula und Frankenstein gut genug war, kann natürlich auch bei King funktionieren. Der Nachteil ist, dass es mir irgendwie schwerer fällt mich in unseren Erzähler hineinzuversetzen, wenn ich immer nur lesen kann, was er freiwillig von sich preisgibt. Den Diener Calvin trifft es noch schlimmer, er bleibt so sehr in der Rolle des anonymen nützlichen Gehilfen, dass mich sein Tod im großen dramatischen Finale ziemlich kalt lässt. Andererseits ist die Briefform natürlich eine gute Entschuldigung für all die kleinen Fehler in Boone-Stammbaum, die unserem Autor mal wieder unterlaufen sind. Denn wer kann schon sagen ob der gute Charles immer alle Familienverhältnisse richtig auf dem Schirm hatte und sich nicht mal in einer Jahreszahl vertan hat. Wobei mir die ganzen Ungereimtheiten, die hier auf der Seite aufgelistet werden, beim lesen sowieso nicht aufgefallen sind.

Im Grunde geht es bei der ganzen Ahnenforschung ja auch nur um einen einzigen düsteren Vorfahren - James Boon. Und was King aus dem wahnsinnigen Sektenführer macht ist eine Nummer für sich. Er verbindet die Lovecraft-typischen inzestuös-verderbten Blutlinien, die im Original allzu oft auf Verbindungen mit Dämonen, Aliens oder Fischmonstern zurückgehen, ziemlich geschickt mit dem ur-amerikanischen Konzept abgeschiedener Sekten-Dörfer. Wer sich ein bisschen mit dieser Epoche beschäftigt - zum Beispiel mit den Anfängen der mormonischen Kirche - weiß, dass es eine Zeit gab, in der man amerikanischen Siedlern auf der Suche nach einem neuen religiösen Sinn im Leben so ziemlich alles erzählen konnte. Ein Boon, der ein ganzes Dorf zu seinen Sex-Jüngern macht, würde da gar nicht weiter auffallen.

Kritisch wird das ganze natürlich, sobald klar wird, dass unser fanatischer Inzest-Patriarch in diesem Fall mal wieder richtig lag und tatsächlich einen schrecklichen Riesenwurm entfesselt hat (Was wohl Freud dazu sagen würde?). Hier könnte das ganze leicht in albernen Monster-Horror umschlagen und die recht schaurige Atmosphäre der verlassenen Kleinstadt ruinieren. Aber King kriegt die Kurve - der Wurm wirkt mächtig und fremdartig genug, um als echte kosmische Bedrohung durchzugehen. Daneben war das Wiedersehen mit James Boon als untotem Wurmwärter ziemlich fesselnd beschrieben. Dafür hätte ich auf die Versammlung der Boones als Geistergemeinde verzichten können. Und auch die ganze Geschichte um das Buch, das man zerstören muss, um den Wurm in die Flucht zu schlagen kam mir ein kleines bisschen sehr Kinderbuch-Horkrux-mäßig vor. Trotzdem - besonders wenn King den erzählerischen Kreis schließt und ein Jahrhundert später den nächsten Boone ins Verderben laufen lässt, funktioniert das ganze gut genug für 4 Punkte.

Fazit: Unser Autor liefert mal wieder eine geniale Vorgeschichte voller Lovecraftscher-Andeutungen und Geheimnisse und hält sich beim großen Finale gerade genug zurück, um die Spannung zu halten. Dafür dass King angeblich so wenig für Lovecraft übrig hat, kriegt er seinen Stil ziemlich gut hin.


V E Artikel über Briefe aus Jerusalem
KurzgeschichteInhaltsangabeRezensionen • Coverpage
Charaktere: Mr. BigelowBonesJames BoonFamilie Boone (Charles, Henry, James Robert, Judith, Kenneth, Marcella, Philip, Randolph, Robert, Sarah, Stephen) • Clifton BrockettBarbara BrownMr. ClaryMrs. ClorisMr. FrawleyHenry GoodfellowEverett GransonMr. HansonCalvin McCannJohn PettyGoody RandallRichardMr. Thompson
Schauplätze: ChapelwaiteJerusalem's Lot
Sonstiges: Die Briefe aus JerusalemWurmDie Geheimnisse des WurmesVerwandte Geschichten: Brennen muss Salem, Einen auf den Weg1789 und 1850