Der Anschlag: Rezension
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Inhaltsverzeichnis
Wörterschmied (3 / 5)
Das Buch Der Anschlag ist genau das, was man vor dem ersten Aufschlagen erwartet: Absolut jede Erwartung (in positiver wie negativer Sicht) wird haargenau erfüllt:
- Positiv
- Der Einstieg ist wie bei Kings jüngsten Werken (Die Arena) direkt und kommt ohne lange Erklärungen aus.
- Aus sprachlicher Sicht ist das Buch gelungen, auch wenn es bei Weitem nicht an den Wortwitz von Wahn heranreicht. Das Buch liest sich widerstandslos wie der Unterwäschekatalog von Victoria's Secret.
- Mindestens 19 verschiedene Implementierungen einer bestimmten Zahl und augenzwinkernde Verweise auf Werke wie den Dunklen-Turm-Zyklus und ES.
- Negativ
- Gerade die Ich-Perspektive macht es schwer, dem Protagonisten eine handfeste Charakteristik zu geben und seinen Charakter zu entwickeln. Ähnlich wie Dale Barbara ist Jake Epping glatt wie ein Aal und flutscht durch die Seiten, in der Hoffnung an irgendeiner Ecke oder Kante hängen zu bleiben, genau wie seine begrenzt-dimensionalen Sidekicks.
- Es gibt keinen echten Antagonisten. Die Taten von Lee Oswald sind Jake bis ins Kleinste bekannt und vorhersagbar, letztendlich wird er zum Opfer. Der Bunte-Karten-Mensch kommt seiner Rolle als Zeitenwächter(?) nur bedingt nach und hätte stärker in die Handlung involviert werden müssen - wo sind eigentlich die Langoliers die ganze Zeit?
- Aus rund 850 Seiten im Original hätte man gut und gerne eine 400-Seiten-Geschichte machen können ohne die Spannung zu nehmen - im Gegenteil!
- Ernsthafte Frage: Wer hat etwas anderes erwartet, als dass Oswald durch Jake erschossen wird, während dieser Sadie tötet und Jake, nachdem er erkannt hat, dass man die Geschichte nicht verändern sollte (duh!), alles wieder zurücksetzt und die Handlung des Buches damit an sich nichtig macht? Interessanter wäre es gewesen, wenn der namensgebende Anschlag in der ersten Hälfte des Buches vereitelt geworden wäre und Jake in der zweiten Hälfte von den schlimmen Folgen eingeholt wird und letztendlich selbst derjenige wird, der JFK erschießt, weil Oswald die ganze Zeit unschuldig war.
- Ungeklärt
- Warum 4-5 Jahre in der Vergangenheit verweilen, wenn Jake bereits durch einige Recherche herausfinden könnte, wo Oswald sich 1958 befindet, um ihn dort abzuknallen? Sollte er wirklich einen Komplizen gehabt haben oder unschuldig gewesen sein, ließe sich das durch Reise in die Gegenwart sofort überprüfen. Die Reset-Funktion reduziert Jakes Vorgehensweise (eigentlich!) auf ein Trial-and-Error-Verfahren, dessen Durchlauf in wenigen Tagen stattfinden könnte. Die Idee, die Polizei durch einen anonymen Anruf auf Oswald aufmerksam zu machen, wäre auch zu einfach gewesen ...
- Fazit
- Das Potenzial der Grundidee wird von King leider nur zu 19% ausgeschöpft.
Croaton (4 / 5)
Ich liebe Zeitreisen und war sofort von der Idee begeistert, dass King sich diesem Thema endlich einmal ausführlicher widmen wollte. So waren meine Erwartungen an den Roman Der Anschlag äußerst hoch.
In den ersten 11 Kapiteln des Buchs war ich gefesselt, zum einen von Kings Zeitreisetheorien als auch von Jake Eppings ersten Versuchen, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Die Welt und die Ausgangssituation, die King hier aufbaut, ist erstklassig und sehr mitreißend. Leider kommen dann jedoch ganze 10 Kapitel, die zum einen Großteil derart politisch sind, dass ich oft den Faden verloren habe und zum anderen Details derart dezidiert beleuchten, dass eine Raffung um mindestens 200 Seiten kein Verlust gewesen wäre. Dann die vielen Anspielungen auf das Amerika der späten 50er und frühen 60er, die mir entgingen und sich auch in einer Sprachwahl niederschlugen, die mir selbst mit Wörterbuch schleierhaft blieben (@ Rezension Wörterschmied: "Das Buch liest sich widerstandslos"??? Kann ich überhaupt nicht nachvollziehen!) – das hat mich ermüdet und mir den Spaß genommen.
Am Ende gibt der Roman wieder mehr Gas, aber da hat man schon einen faden Geschmack im Mund. Auch versäumt King es, die Rolle der Kartenmänner schlüssig zu erklären, übertreibt meines Erachtens zu sehr bei der Negativdarstellung des alternativen 2011 und entscheidet sich dann auch noch dazu, mit Hilfe des Reset-Tricks wieder zum Status Quo zurückzukehren, was so ähnlich ist als ende ein Roman mit den Worten: "Und da wachte er auf und stellte fest, dass alles nur ein Traum war."
Fazit: Im Grunde ein 3er-Roman, dem ich wegen der insgesamt gelungenen Zeitreise-Aspekte und der vielen Anspielungen auf andere Werke doch gerade so 4 Punkte erteilen möchte. Trotzdem lässt mich Der Anschlag etwas enttäuscht zurück, da ich ihn nach der ersten Ankündigung schon in meine Top Ten hineinhoffte …
Mr. Dodd (3 / 5)
Zunächst ein Hoch auf die deutsche Übersetzung. Nach Das Attentat gibt es nun Der Anschlag. Als ob in Deutschland mit dem 22.11.1963 niemand was anzufangen wüsste. Und dennoch lässt sich hier sogar eine dieser Harmonien erkennen, denen Jake Epping bei seiner Reise in die Vergangenheit immer wieder begegnet, bei beiden Romanen taucht besagtes/r Attentat/Anschlag erst im letzten Fünftel zentral auf.
Was lässt sich zu dem Buch sagen? Ich finde es als Allererstes toll, dass King endlich seinen langen Traum erfüllen konnte, ein Buch darüber zu schreiben, was passieren würde, wenn das Kennedy-Attentat verhindert werden würde. Hinweise dazu gab es schon im Langoliers-Film und im Dunklen Turm Zyklus. Schon die Größe des Buches sorgte aber bei mir für zwiespältige Gefühle, denn zum einen freute ich mich auf die Zeitreisen-Thematik, zum anderen war ich ungewiss, wie Spannung über tausend Seiten erzeugt werden soll, wenn am Ende ein bekanntes Ereignis steht.
Genau so wurde Der Anschlag dann auch. Die ersten Kapitel fand ich wahnsinnig gut, die Zeitreisetheorien von King gefielen mir (auch wenn hier einige Paradoxa auftreten, denn hätte es nicht jedes Mal einen neuen Al und Jake geben müssen bei jedem Neustart) und die Art und Weise, wie Jake erst einmal probiert, ob Änderungen wirklich möglich sind war eine gelungene Einleitung. Dann jedoch sackt der Roman ab, als er zu seiner richtigen Aufgabe übergeht und versinkt in oft seitenlange Langeweile, die ich mit einem Wort betiteln kann: Jodie. Der Ort wirkt auf Jake so gut, die Bewohner sind so nett und das mit Sadie ist eine so perfekte Beziehung, dass es nur langweilig werden konnte. Mir wird erstens nicht klar, wie es ein Mann aus dem 21. Jahrhundert schafft, sich so perfekt in die 1960er Jahre zu integrieren, irgendein Fehler muss ihm einfach passieren, der seine Tarnung auffliegen lässt. Noch dazu wirkte die Sadie-Beziehung, die natürlich aus einer schweren Familie kam und mit einem durchgedrehten Irren verheiratet war, wie ein neumodischer Aufguss von der Susan-Roland-Beziehung, der mich allerdings kaum überzeugte oder irgendwie berührte.
Interessanter wurde es erst, als Jake wieder öfter Jodie verließ, um seine Vorbereitungen für Lee Harvey Oswalds Ankunft zu treffen, sowie die Bespitzelung seiner Familie. Richtig gepackt hat mich dann die Geschichte, als Jake zusammengeschlagen wird, die Vergangenheit sich immer stärker wehrt und er gerade so das Attentat verhindern konnte, wobei natürlich, oh Wunder, Sadie sterben musste.
Der Höhepunkt war der katastrophale Zustand der Welt bei seiner Rückkehr, auch wenn ich mir hier mehr Details gewünscht hätte. Ein bisschen verschaukelt kam ich mir aber dann doch durch den Reset vor (700 Seiten Handlung zum Vergessen) und die eher lahme Rolle der Karten-Männer. Wenn sie nun alles wissen, wieso können sie nicht eingreifen oder kaum verhindern, dass Zeitreisende alles durcheinander bringen? Hier wäre mehr möglich gewesen. Beispiel: Jake will zurück, um Sadie zu retten, doch der Grüne-Karte-Mann zerstört den Kaninchenbau und Jake muss für immer ab 1963 leben.
Fazit: Interessante Grundidee, sehr starker Einstieg, sehr zähe Mitte (Jodieweile kann meiner Meinung nach schon als Synonym dafür herhalten), dramatischer Höhepunkt und ein unbefriedigendes Ende. King hätte den Fokus vielleicht noch ein bisschen mehr auf das Attentat und die Auswirkungen legen sollen, anstatt die Susan-Roland-Beziehung im Gewand von zwei Schullehrern neu aufleben zu lassen.
Landkärtchen (4 / 5)
Beim Abwasch oder der Dienstreise: Die deutsche Hörbuchversion, gesprochen von David Nathan (u.a. Synchronsprecher von Johnny Depp), ersetzt nicht nur die Buchstaben sondern trägt dazu bei, das Kopfkino noch deutlicher werden zu lassen. Aber es müssen schön viele Haushaltstätigkeiten oder etwas Reisetätigkeit zusammen kommen, ehe man die ca. 30 Stunden hinter sich gebracht hat. Und ich muss zugeben: Unterbricht man dieses Kino eine Zeit lang, was gezwungenermaßen nicht ausbleibt bei 30 Stunden, erfordert es schon etwas Energie, nach einigen Tagen der Pause die Radiomusik wieder abzuschalten und sich wieder zu vertiefen.
Was wir serviert bekommen ist keine Kurzgeschichte.
Aber das sieht man vor dem Kauf. Es war zu erwarten, dass bei diesem Volumen das volle Spektrum an Gefühlen, Fakten und Fantasien zusammen kommen wird. Dass man nicht in jedem Absatz Spannung erwarten kann, sondern sich auch auf andere literarische Werte wird einlassen müssen. Und dass es sich hier um einen Roman mit historisch faktischen Elementen handelt, die akribisch recherchiert in die Inszenierung eingebettet werden müssen. Es ist zu erwarten, dass historische Details den Leser ermüden lassen, ehe dann die Fantasie wieder die Oberhand gewinnt.
Doch das stimmt nicht ganz. Gerade der historisch exakte Ablauf des Attentats, soweit er denn bekannt ist, wird in eine schnelle Abfolge an Handlung mit gehörig Spannung eingebettet. Der Verlust Sadies an dieser Stelle ist zwar literarisch primitiv, aber trotz allem ein notwendiger Bestandteil, um den Roman so abzuschließen, wie er endet. (Noch heftiger wäre es gewesen, wenn Sadie bereits im Bus das zeitliche segnet -- oder noch besser: Es dem Protagonisten in diesem Zeitstrang nie wirklich bekannt wird, ob sie überleben wird.) Jedoch...
...darf man diesen Roman in der Spannungserwartung eben nicht über-strapazieren. Im Gegensatz zu einem reinen Fantasie-Roman gibt es hier noch den äußersten Rahmen der Historie. Der für den Leser wahrhaftig realistisch ist. Das ist das tatsächlich Besondere. Die Rahmenhandlung spielt in unserer Welt. Zu einem Zeitpunkt als wahrscheinlich der die Erde und uns vernichtende 3. Weltkrieg nie näher stand als zu diesem Zeitpunkt.
Dieser Punkt. Genau bei diesem Punkt waren während der gesamten Hörphase meine Fragezeichen am größten: Wird King es wagen, eine im US-amerikanischen Sinne fatale Entwicklung der Spannungen im Rahmen der Kubakrise zu entwickeln, die einen dritten Weltkrieg als Ergebnis zur Folge haben? Wird er es wagen, Kennedy leben zu lassen, um eine für das heutige Amerika und die Welt klare Entscheidung zu fällen? Wäre es mit einem jungen Präsidenten möglich gewesen, die Farce eines dritten Weltkriegs auszulösen? Weil die Weitsicht eines Mannes über die Folgen nicht ausreichend waren? Weil es die 99 Luftballons am Himmel zwischen Kuba und Amerika gab, die einen Gegenangriff in russische Richtung auslösten?
Welchen Kunstgriff würde King anwenden, um diesem politischen Spagat geschickt auszuweichen?
Nein. Hier hat mich King enttäuscht. Er ist dieser Brisanz ausgewichen, in dem er in die Region der Schurkenstaaten ausweicht. Nicht ganz. Er hat dem alten Amerika zugetraut, eine Bombe in Vietnam fallen zu lassen. Politisch in den Langzeitfolgen korrekt gehalten mit den verheerenden Wirkungen der Entlaubungsmittel, die Amerika statt dessen einsetzte. Aber immerhin: Er hat den Vietnamkrieg kritisiert. Aber das ist politisch gerade noch korrekt in einer Demokratie.
Nun, er hat sich um all das herum gewunden. Statt dessen müssen Zeitstrangverschlingerungen mit akustischen Phenomänen und Erdbeben herhalten, um dem Protagonisten den Rest zugeben, der Liebe zu Sadie nicht hinterher zu jagen, sondern die Welt wieder zu richten. Wobei: Rein logisch müsste er bei seiner letzten Rückkehr in die Zukunft (Jetztzeit) noch einmal kurz zurück gehen, um auch den letzten Strang (der seiner Rückkehr, in der er nur noch seine Aufzeichnungen machte) auszulöschen. Warum tat er diesen logischen Schritt nicht? Warum schreibt er ewig an seinen Erlebnissen, um sie zu verbuddeln? Er hätte sie doch nur mitnehmen brauchen? Warum, warum?
Am Ende bleiben Fragen offen. Aber nur über das Ende.
Ich würde den Sinn der Kartenmänner nicht überstrapazieren. Auch nicht die Logik der parallelen Zeitstränge. Aber warum gibt King den Kartenmännern in Form eines Neuen Kartenmannes einen so wesentlichen Sinn? Der Ordnung der Zeit halber? Dann wäre es ein Leichtes gewesen, die letzte Rückkehr auch noch auszulöschen und die Blase zum erlöschen zu bringen.
Genau genommen ist doch aber die Schnittstelle der Zeitreise gar nicht der entscheidende Punkt der Handlung, sondern die Verhinderung des Anschlags verbunden mit den persönlichen Erfahrungen des Protagonisten über die Zeit. Den Dingen die davor passierten. Diese Dinge machen den Schwerpunkt des Buches aus. Die Liebe zu Sadie insbesondere. Der allerletzte Abschluss ist dann auch wieder sehr gefühlsbetont und im Einklang mit 90 Prozent des Buches.
Für mich ist das Buch ein spannungsvoller Liebesroman mit fantastischen Elementen und realistischem Bezug. In diesem Sinne hat es mich in seinen Bann gezogen. Und ich bereue nicht, David Nathan zugehört zu haben, der all den unterschiedlichen Personen recht eindeutig zu identifizierende Stimmen verliehen hat. Das macht das deutsche Hörbuch so faszinierend. Dazu kommt der historisch detailliert recherchierte Ablauf um Lee Oswald. Die Mischung aus historischer Realität und Fantasie fand ich sehr ausgewogen, dem Handlungsablauf nach dem Attentat jedoch kommt ein bisschen einem professionellen Coitus Interruptus gleich. So, als ob der Verlag endlich den Abschluss des Romans verlangt hat. Oder King selber schon in den Überlegungen zum nächsten Roman steckte und den "Alten" zum Abschluss bringen musste.
SteffenRuhr (4 / 5)
Der Anschlag enttäuscht Erwartungen, und das ist auch gut so. Er tappt eben nicht in die Falle, ein zweiter Butterfly Effect sein zu wollen - es steht eine der Zeitreisen im absoluten Mittelpunkt. Und am Ende fragt man sich: ändert Jake Epping die Geschichte oder ändert sie ihn. "Fünf Jahre soll das dauern?" - diese Information hätte mich unter Umständen vom Kauf abgehalten, ich erfuhr es aber erst nach dem Kauf von Al Templeton, Jakes Mentor in Sachen Zeitreise. Diesen Schock federt King gekonnt ab: zum einen durch die kleinen Unterschiede zu den Erfahrungen des Schnuppertrips (Faszination Zeitreise), zum anderen durch die kleinen Rettungsmissionen (Carolyn Poulin, Harry Dunning) - als noch-nicht-King-Veteran brachten mir die Derry-Anspielungen nicht viel. Insbesondere die doppelte Dunning-Konfrontation sorgt für einen actionreichen Einstieg in die Vergangenheit. In Texas wandelt Epping sich dann, vom innerlich distanzierten Schläfer, zu einer Person, die die Zeit, in der er lebt, an sich herankommen lässt. Angewidert vom feindselig-rassistischen Dallas, umgibt er sich in Jodie mit Menschen, die ihm mehr und mehr bedeuten. Die Lüge George Amberson (so Jakes Pseudonym) erscheint dem Leser liebenswert und lebenswert - und Sadie und die anderen Bürger von Jodie werden beiden wichtig: Jake und dem Leser und beide leiden unter dem Zwiespalt, symbolisiert durch den Besenstiel. Kennedy gegen Jodie, und die Uhr tickt immer schneller. Dazu noch die halsstarrige Vergangenheit, die Jake hypnosegleich immer mehr einlullt ... die gesamte Mission steht auf der Kippe. So wird die herbeigesehnte Konfrontation mit Oswald, die man sich von Anfang an schon auszumalen versuchte, eilig aber dennoch intensiv - und was als Finale erwartet wurde, wirft eher neue Fragen auf. Kennedy zu retten fühlt sich auch für den Leser plötzlich ganz anders an. Und dann rückt der Zeitreise-Effekt wieder in den Vordergrund und äußert sich durch mehr als nur Jakes Wissen. Dieser rote Faden ist von Stephen King zu schwach gesponnen: Kartenmänner, "Jimla!", die hellsichtige Ivy Templeton - das Konzept der "Wissenden" zerfasert aufgrund der Länge des Buches. Die finale Zeitreise ist länger als erwartet, aber sowohl Jake als auch die Geschichte haben Wunden (von denen man gerne mehr erfahren hätte) erlitten, die Heilung benötigen.
Jake Eppings Prioritäten verschieben sich über den gesamten Verlauf der Handlung und der Leser vollzieht die Wandlung mit - teilweise sogar vor Epping, und dennoch wird die Handlung nicht erwartbar. Bis auf einzelne Aspekte der Zeitreise und der Konsequenzen hält King nicht nur alles, was er verspricht - er fasziniert darüber hinaus.
Tiberius (2 / 5)
Es ist schwierig bei einem Roman wie diesem und den dazugehörigen Umständen wirklich neutral zu bleiben. Aus verschiedenen Gründen. Da ist einerseits der Autor, der bei mir über alles geht. Da ist die Messlatte, die sich in meinem Kopf aufgebaut hat, weil so viele Leser ihn fantastisch finden, und da sind die Themen, die Stephen King mit Der Anschlag verwendet. Zeitreisen, die Melancholie der Vergangenheit, die Träume eines Lehrers und eines Verliebten und ein wenig Politik und Mystik.
King hat mit Der Anschlag viele Themen aufgegriffen, die sehr autobiografisch wirken. Wie Jake Epping ist auch King ehemaliger Englischlehrer mit der Neigung Geschichten zu verfassen. Wie Al Templeton hält er das Attentat an John F. Kennedy für eines der bedeutenden traumatischen Erlebnisse der USA aus der jüngeren Vergangenheit. Am 22. November 1963 ist King selbst 16 Jahre alt, mitten in einem Alter also, in dem sich seine starke pro-Demokratische Meinung herausgebildet haben dürfte. Eine Zeit, in der die USA in meinen Augen mitten im Umbruch stand. Die Trennung von weißen und schwarzen Amerikanern wurde per Gesetzt offiziell aufgehoben. Anstelle vom großen Weltkrieg standen zunehmend Stellvertreterkonflikte mit der Sowjetunion. Neben der Kubakrise, die den USA zeigte, wie nah ihnen der Feind kommen konnte war vor allem der Vietnamkrieg wahrscheinlich einer der traurigen Zwischenhöhepunkte des Kalten Krieges. Inmitten dessen wird Kennedy erschossen. Um dieses Attentat ranken sich bis heute Verschwörungstheorien. Was, wenn Oswald nicht allein gehandelt hat. Was, wenn er im Auftrag der CIA, der Sowjetunion oder der Mafia geschossen hat? Ein komplexes Thema, welches auch in Der Anschlag ausführlich behandelt wird.
Machen wir es kurz. Ich habe so meine Probleme mit Stephen Kings Endergebnis. Wie bei anderen Werken auch, die bei mir durchgefallen sind, dauert es bei King länger, bis ich zu einem negativen Urteil komme. Aber wenn, finde ich es umso trauriger, denn Kings Fallhöhe ist einfach eine Andere als bei anderen Autoren.
King bedient sich ausgiebig aus den Mitteln, die bei ihm schon immer gut funktionieren. Jake Epping als Hauptcharakter entspricht Kings Standardschema. Er ist Lehrer, aufrichtig, witzig, charmant und hält zu seinem Vorhaben, wenn er es beginnt. King wirft mitunter anderen Autoren völlig zu Recht vor, sie würden ihren Charakteren keine Tiefe verleihen. Ich habe das Gefühl, auch er hat bei Epping nicht seine Höchstleistung abgerufen. Es wirkt, als würde Epping so gut wie nichts aktiv tun, um voran zu kommen. Es scheint, als würde jeder Schritt hin zum unausweichlichen Finale durch jemand anderen initiiert werden. Angefangen von Harry Dunning und Al Templeton in seiner Gegenwart, Bill Turcotte, Charles Frati und Andere in Derry, Al Stevens, Mimi Corcoran, Deke Simmons und Sadie Dunhill in Jodie. Ivy Templeton in Fort Worth und Eduardo Gutierrez, Akiva Goldsman und andere Gegner, die ihm sogar seine Rückschläge quasi frei Haus präsentieren.
Epping ist einer der Charaktere, mit denen ich mich nur sehr wenig identifizieren kann. Ungewöhnlich für einen Stephen-King-Roman, denn es klappt normalerweise ganz gut. Egal ob King Kinder, normale Erwachsene oder bereits gealterte Senioren präsentiert. Doch Epping wirkt flach, fast unnahbar. Es ist fast schon überraschend als Sadie Dunhill ihm vorwirft, ihr völlig unbekannte Sprichwörter zu benutzen. Zuvor hatte ich immer das Gefühl, Jake passt widerstandslos in die Zeit, was für mich unglaubwürdig war.
Überhaupt erscheint auch die Beziehung zu Sadie selbst wie ein Fremdkörper in der gesamten Handlung. Als sie sich kennenlernen und näher kommen, war sie für mich nur ein Charakter wie Frank Dunning, Bill Turcotte, Mimi Corcoran und co. Stark und präsent wirkende Charaktere von geringer zeitlicher Dauer. Schlimmer noch, Jake wirkt bei der ersten Begegnung wie ein Lüstling - vielleicht ist das ja seine geheime Tiefe, die ich verpasst habe? Man hat mir eine romantische Liebesgeschichte versprochen. Stattdessen glaube ich, dass Jake vor allem auf sie steht, weil sie groß, blond und blauäugig ist und tolle Brüste hat. Der Rest ist für den quasi perfekten Lehrer voller Charm nur noch eine Sache von ein paar gemeinsam organisierten Feiern. Dass er während einer Trauerfeier bei ihr einen Lachanfall auslöst, wirkt dabei alles andere als romantisch. Dass eine Frau, die sich nach Jahren der Unterdrückung durch einen zwangsgesteuerten Mistkerl dem Nächsten bedingungslos an den Hals wirft und alle Bedenken ignoriert, lässt sich für mich nicht greifen. Ja, es sind die 60er Jahre und vielleicht ist Sadie einfach dafür gemacht, sich den Falschen anzuschließen. Aber wäre es nicht super gewesen, sie hätte wirklich die Beziehung zu ihm beendet? Wäre doch eine tolle Motivation für ihn, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Apropos Das nächste Mal. Wie schon bei Ur geschrieben, bin ich selbst vom Thema der Zeitreisen fasziniert. Filme wie 12 Monkeys, Primer, oder sogar die Reihen von Terminatoren und Zurück in die Zukunft sind Filme, die ich mir mehrmals angeschaut habe. Kings Versuch, sich ebenfalls mit dem Thema zu beschäftigen wirkt auch in Der Anschlag ungelenk. Ich habe das Gefühl, er verheddert sich dabei, gewisse Dinge zu erklären um die Handlung spannender zu gestalten, und bei anderen Dingen nicht so genau zu sein, um seine künstlerische Freiheit nicht zu verlieren. Schade, denn das Ergebnis hinterlässt einige Fragezeichen. Wie es auch nur annähernd möglich sein kann, dass Dinge durch die Zeitreisen repliziert werden (Als Hamburgerfleisch, Jakes Klamotten), wie und wann genau die Vergangenheit sich zu wehren beginnt, warum King Kartenmänner braucht, wenn er durch den Schmetterlingseffekt genauso die annähernde Vernichtung der Welt erklären könnte. Dagegen verpasst King einige Gelegenheiten dem Thema etwas mehr Würze zu geben. Warum kann Epping nicht seinem Vater begegnen. Dass so etwas die Kartenmänner zum durchdrehen bringen würde, wäre wenigstens auch für ihn verständlich. Warum kann Templeton ihm nicht erzählen, dass er aus Versehen mal die Vergangenheit so änderte, dass etwas entscheidendes - aber letztlich harmloses - in der Gegenwart völlig anders gewesen wäre. Das Logo einer Band oder einer Firma zum Beispiel. Stattdessen sind es Hamburgerfleisch, einige Dollarscheine und der Aufenthalt in einer Sommerhütte am See.
King wirkt für mich hier inkonsequent und damit wenig vertrauenswürdig. Denn letztendlich beginne ich seine vorgestellte Theorie zur Zeitreise zu hinterfragen und ende damit, jede seiner Entscheidungen fragwürdig zu finden. Wie wahrscheinlich es ist, dass ein kubanischer Mafioso aus Florida Beziehungen bis nach Dallas unterhält und so drei Wetten innerhalb von drei Jahren für solch einen Wirbel sorgen. Wieso Al Templeton Jakes erste Veränderung der Vergangenheit nicht gespürt hat. Die Nähe zum Zeitportal lasse ich nicht gelten, schließlich hat sich auch das Foto in seinem Diner angepasst. Wer hätte es außer ihm geschossen, wer sonst an seine Wand gehangen? Was wohl passiert wäre, wenn man zu Zweit durch das Zeitportal gegangen wäre und nicht gleichzeitig wieder zurückkehren würde.
Zum Thema Rückkehr hätte ich auch noch etwas. Warum Derry? War es ein Probelauf, ob sich vielleicht doch noch ein Roman mit Pennywise lohnt? War es vielleicht ein Abgesang auf genau diese Option? Ich bin mir nicht sicher, was ihn dazu motiviert hat. Auf den ersten Blick war es toll, Jake Epping in einen bekannten Ort zu folgen. Doch ich erkenne Derry kaum wieder. Ja, die Stadt war mir in ES auch nicht ganz koscher, aber der Klub der Verlierer hat daraus etwas lebendiges und liebenswürdiges gemacht. Jetzt, nur wenige Wochen nach der ersten Schlacht gegen den Außenseiter ist plötzlich alles anders. Ein Beispiel: Norbert Keene ist der Apotheker des Ortes, zu dem schon Sonia Kaspbrak mit ihrem Sohn Eddie ging. In meinen Augen war Keene der einzige, der genügend Mumm und Charakterstärke bewiesen hat, denn er hat sich gegen Sonia durchgesetzt. Er hat versucht, ihren Sohn aufzuklären und damit zu helfen. Doch in Der Anschlag wird Keene zu einem gehässigen kleinen Männchen degradiert, der Fremde so wenig leiden kann, dass sie sich in seinen Augen ruhig in seinem Laden die Hosen vollkacken können. Derry war für mich - trotz der Anwesenheit von Pennywise - bunt und ein Abenteuerspielplatz für meine Helden. Für Jake Epping ist die Stadt grau und feindselig. Insgesamt lässt mich auch dieser Abschnitt des Romans mit Fragen zurück. Wie toll der Zufall wirklich ist, dass Jake ausgerechnet ein paar Wochen vor dem Beinahe-Tod des Hausmeisters seiner Schule herauskommt, wie wunderbar ihm die Vergangenheit in die Karten spielt, dass nur wenige Personen mit ihm reden wollen, die ihm aber alle notwendigen Informationen ohne Bedenken liefern. Es sind diese kleinen Dei ex machina, die ihm in Derry und auch danach noch begegnen. So auch der Hinweis, dass Andrew Cullum begeisterter Cribbage-Spieler ist. So rettet er quasi frei Haus eine junge Dame, die mir zu dem Zeitpunkt schon fast wieder entfallen, mindestens aber egal geworden, ist.
Insgesamt scheint es, als möchte King in Der Anschlag vieles unterbringen. Seine eigene Verarbeitung mit dem Anschlag auf John F. Kennedy. Seine Gefühle, die er in der Vergangenheit als Lehrer gehabt hat oder gern gehabt hätte, seine merkwürdig zum Ausdruck gebrachte romantische Ader, seine Faszination von Kleinstädten und viel Mystik. Vieles davon ist angedeutet, sehr gut angedeutet sogar. Doch die Mischung aus den verschiedenen Brocken funktioniert für mich nicht. King ist sicherlich jemand, der eine fantastische Geschichte nachvollziehbar und begeisternd entwickeln lassen kann. Allerdings glaube ich, war das Gerüst, eine fiktive Geschichte anhängend an die wahre Geschihchte von Lee Harvey Oswald und Kennedy, nur sehr schwierig für ihn zu stemmen. Schaut man sich an, was für die Adaption daraus gemacht wurde, sieht man, was auch King hätte besser machen können. Mit der Straffung an einigen Stellen, mit dem Fokus auf wirkliche Hindernisse und mit einer gewissen Menge Nachvollziehbarkeit. Auch für einen Horrorroman tut das nämlich ganz gut.
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